Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5. Mai 2020 (EZB und „ultra vires“)

Notizen und Anmerkungen:

(Quellen im Anhang)

1. Allgemeines

Mit dem vorliegenden Urteil hat das BVerfG mehreren Verfassungsbeschwerden gegen das Staatsanleihenkaufprogramm der Europäischen Zentralbank (EZB) stattgegeben. Es befasste sich dabei nicht zum ersten Mal mit der Europäischen Währungsunion, sondern hatte zuvor unter anderem über Anträge gegen den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) entschieden. Zunehmend erweist sich die Konstruktion der Währungsunion auch aus juristischer Sicht als Achillesferse des europäischen Einigungswerkes.

Das Urteil des BVerfG hat im Wesentlichen drei Adressaten:

i) Europäischer Gerichtshof (EuGH),
ii) Europäische Zentralbank (EZB),
iii) Bundesregierung und Bundestag bzw. die nachgeordneten Behörden.

2. Spezielles

i) Zum EuGH

Dem vorliegenden Urteil des BVerfG ging ein Vorabentscheidungsverfahren des EuGH voran.

Vorabentscheidungsverfahren: Der Rechtsschutz in der EU wird grundsätzlich durch die mitgliedstaatlichen Gerichte gewährt. Im Sinne der Rechtseinheit der EU obliegt die abschließende Auslegung von Unionsrecht aber dem EuGH. Stößt das mitgliedstaatliche Gerichte daher auf eine ungeklärte unionsrechtliche Frage, so kann bzw. muss es diese dem EuGH zur „Vorabentscheidung“ vorlegen (Art. 19 I 2 EUV, Art. 267 AEUV).

Das BVerfG akzeptiert grundsätzlich die Auslegungskompetenz des EuGH im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens, allerdings unter dem Vorbehalt, dass die EU nicht ihre Kompetenzen überschreitet.

Zunächst zielte dieser Vorbehalt auf den Schutz der Grundrechte ab (Urteile „Solange I“ und „Solange II“). Demnach stand die Akzeptanz des europäischen Rechts durch das BVerfG unter dem Vorbehalt, dass die europäische Gemeinschaft einen dem Grundgesetz gleichwertigen Grundrechte-Schutz garantiert. Das BVerfG geht mittlerweile davon aus, dass dies der Fall ist.

Mit dem Maastricht-Urteil erweiterte das BVerfG den Grundrechte-Vorbehalt um einen Demokratie-Vorbehalt: eine Kompetenzüberschreitung der europäischen Institutionen ist demnach insbesondere dann anzunehmen, wenn das Demokratieprinzip (Art. 20 I, II GG) – auch in Verbindung mit der Wahl des Bundestages (Art. 38 I GG) – berührt ist.

Im vorliegenden Fall ist das BVerfG der Auffassung, dass das EuGH durch eine „objektiv willkürliche“ Auslegung der EU-Verträge seine Kompetenzen überschritten habe („ultra vires“), weshalb seinem Urteil die demokratische Legitimation fehle.

Aus juristischer Perspektive ist dieser Vorbehalt des BVerfG insoweit vertretbar, da die EU eindeutig schwächer demokratisch legitimiert ist als der deutsche Staat (nachgeordnete Bedeutung des EU-Parlaments in der Gesetzgebung, keine gleiche Wahl der Abgeordneten). Allerdings definiert sich die EU insbesondere als „Rechtsgemeinschaft“ (W. Hallstein). Sie will also ihre mangelnde Staatlichkeit bzw. die nationale Zersplitterung ihrer Mitglieder durch die uneingeschränkte Akzeptanz bestimmter Rechtsnormen kompensieren. Diese Rechtsgemeinschaft erfordert grundsätzlich eine uneingeschränkte Akzeptanz des EuGH durch die nationalen Gerichte.

Kann dieses Problem gelöst werden? Bisher offenbar nicht. Die Wahrung der „Rechtsgemeinschaft“ und die Wahrung des Demokratieprinzips (notwendig auf nationaler Ebene solange die EU nicht ein demokratischer Staat wird) schließen sich in letzter Konsequenz gegenseitig aus.

ii) Zur EZB

Vorrangiges Ziel der EZB ist die Gewährleistung der Preisstabilität (Art. 127 AEUV). Diese starke Einschränkung war eine Bedingung für die deutsche Zustimmung zum Maastricht-Vertrag. Im Umkehrschluss muss die EZB beispielsweise Verteilungseffekte ausklammern, wenn sie geldpolitische Entscheidungen trifft. Überspitzt gesagt: Die Preisstabilität muss gewahrt bleiben, egal welche Nebenwirkungen das hat.

Für das Urteil des BVerfG ist außerdem die Unterscheidung von Wirtschaftspolitik (Aufgabe der Mitgliedstaaten) und Geldpolitik (Aufgabe der EU) von Bedeutung. Diese Dogmatik ist ökonomisch etwas unsinnig, ergibt sich aber aus den europäischen Verträgen und ist wohl juristisch Sicht vertretbar (so argumentiert etwa FISAHN).

Aus einer nicht-juristischen Perspektive erscheint es mir problematisch, dass das BVerfG die Politik der EZB nicht nur anhand vertraglicher Vorgaben prüft (Vorrang der Preisstabilität sowie Trennung von Wirtschaft und Geld), sondern darüber hinaus die ideologischen Vorbehalte der deutschen Euro-Gegner aufgreift und zumindest andeutet, dass sie diese für sachlich begründet hält: demnach stelle die Geldpolitik der EZB einen schwerwiegenden wirtschaftspolitischen Eingriff dar und sei mithin ursächlich für Probleme der Altersvorsorge, fehlende Anreize für eine „gesunde Haushaltspolitik“ in Europa und niedrige (gemeint sind falsche) Zinsen in Deutschland. Die ökonomische Position, welche das BVerfG hiermit bezieht, ist außerhalb Deutschlands bestenfalls noch eine Minderheitenmeinung, die wirtschaftswissenschaftlich nicht haltbar ist.

Anders als die Beschwerdeführer hält das BVerfG diesen Eingriff der EZB zwar nicht für eindeutig rechtswidrig, sieht aber einen besonderen Rechtfertigungsbedarf: Die EZB hätte die Verhältnismäßigkeit ihrer Politik prüfen und insbesondere die Verteilungseffekte ihre Politik darlegen müssen.

Auch aus juristischer Sicht problematisch ist der Einfluss den das BVerfG somit auf die EZB zu nehmen sucht. Erstens ist das ‚zuständige‘ Gericht für die EZB der EuGH und nicht ein nationales Gericht. Zweitens stellt das BVerfG die Unabhängigkeit der EZB in Frage, indem es insinuiert die Zinspolitik der EZB sei objektiv falsch. Diese Unabhängigkeit ist aber primärrechtlich festgelegt (Art. 130 AEUV) und galt bis vor kurzem gerade in Deutschland als das höchste Gut der Geldpolitik. Zudem bringt das BVerfG die Geldpolitik in ein neues Dilemma: sie soll einerseits die Verteilungseffekte ihrer Politik rechtfertigen (das BVerG hält das aus Gründen der Verhältnismäßigkeit für geboten), während andererseits die Verträge ihr vorschreiben, eben keine Rücksicht auf Verteilungseffekte zu nehmen (siehe BOFINGER et al.).

Insgesamt kommt das BVerfG zu dem Ergebnis, dass die EZB die „negativen Auswirkungen“ ihrer Politik besser prüfen und rechtfertigen müsse.

Kann das Problem gelöst werden? Formaljuristisch ja: Die EZB veröffentlicht seit langem umfangreiche Materialien zur Erläuterung ihrer Politik („Monetärer Dialog“) und könnte ohne weiteres noch einen Bericht nach Kriterien des BVerfG hinzufügen. Politisch macht sie sich allerdings angreifbar, wenn sie sich dem Diktum eines nationalen Gerichts unterwirft.

iii) Bundesregierung und Bundestag

Bundesregierung und Bundestag hätten nach Auffassung des BVerfG darauf hinwirken müssen, dass die EZB ihre „unverhältnismäßige“ Politik korrigiert. Solange die EZB ihre Haltung nicht ändere, dürften deutsche Behörden – also die Bundesbank – nicht an der Politik der EZB mitwirken.

Die Forderung des BVerfG ist soweit folgerichtig. Fraglich ist, ob das BVerfG dem deutschen nationalen Interesse – welches es mit seinem Urteil zu verteidigen sucht – dient, wenn es deutsche Behörden zwingt, sich selbst aus der Geldpolitik für den Euroraum auszuschließen.

Quellen:

Bofinger, Peter et al. (2020): „Warum die Unabhängigkeit der Notenbank in Gefahr ist“. FAZ, 29.05.2020. https://www.faz.net/-gqe-9zvop

Fisahn, Andreas (2020): „Karlsruhe vs. EZB“. Blätter für deutsche und internationale Politik 6/2020. S.87-92.

Giegerich, Thomas (2020): „Mit der Axt an die Wurzel der Union des Rechts“. Jean-Monnet-Saar/Europarecht online.

Schmieding, Holger (2020): „Der Irrtum der Richter“. FAZ, 15.05.2020.

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