In einem viel beachteten Arbeitspapier für das „Forum for a New Economy“ hat eine Gruppe deutscher Ökonomen um Philippa Sigl-Glöckner Leitlinien für eine „neue deutsche Finanzpolitik“ formuliert. Die Autoren zeigen die Defizite einer auf Konjunkturstabilisierung ausgerichteten Politik auf und empfehlen stattdessen die Maximierung des Produktionspotenzials zum Ziel der Finanzpolitik zu erklären. Im Folgenden habe ich – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – ein paar Kerngedanken des Arbeitspapiers notiert.
Ziele und Mittel einer neuen Finanzpolitik
- Wesentliche Ziele der neuen Finanzpolitik sollen eine Vollauslastung der Wirtschaft sowie die Vermeidung von Notlagen sein.
- Die Erreichung dieser Ziele kann eine erhöhte Kreditaufnahme des Staates erforderlich machen.
Soweit diese Kredite der Finanzierung von Investitionen dienen und das Zinsniveau extrem niedrig ist, halten die Autoren diese Kreditaufnahme für ökonomisch sinnvoll. Insbesondere sei eine wesentlich höhere Kreditaufnahme grundsätzlich tragfähig.
In der Tat können die Autoren im Anschluss an viele andere prominente Veröffentlichungen der vergangenen Jahre [vgl. IWF, DIW…] einen erheblichen Investitionsrückstand in Deutschland feststellen. Künftige Investitionen müssten insbesondere die Herausforderungen der Klimawandels (durch Investitionen in Dekarbonisierung), des demographischen Wandels (durch die Steigerung ökonomisch produktiver und gut entlohnter Beschäftigung) und eines unausgewogenen Außenhandels (Beseitigung exzessiver Exportüberschüsse zugunsten einer stärkeren Binnennachfrage) begegnen (S.12ff).
Defizite der deutschen und europäischen Schuldenregeln
Der (Schulden-)Finanzierung der erforderlichen Investitionen stehen jedoch die deutschen und europäischen Schuldenregeln entgegen [vgl. u.a. Jan Priewe: „Reformoptionen für die Fiskalregeln in der Europäischen Union“, 2021]. Die Schuldenbremse legt den Fokus auf die Stabilisierung der Schuldenquote. Die Schuldenquote sei aber ein „irreführender Indikator“, der insbesondere das Zinsniveau ignoriere (S.9f). „Sie stammt aus einer anderen Zeit“, als das Zinsniveau noch ein ganz anderes war (S.17) und „vermittelt eine falsche Sicherheit“, weil ihre Erfüllung „weder hinreichende Investitionen noch Produktivitätswachstum“ garantiere (S.16).
Zugunsten der Schuldenbremse ließe sich immerhin sagen, dass sie eine Konjunkturkomponente beinhaltet. Jedoch: „Der Ansatz der Konjunkturstabilisierung zielt darauf ab, die Entwicklung und Auslastung der Wirtschaft um einen historischen Trend herum zu stabilisieren“ (S.19). Jede positive Abweichung von diesem Trend würde bereits als Überhitzung der Konjunktur (fehl)interpretiert. Hingegen gehen die Autoren davon aus, dass eine Volkswirtschaft mehrere mögliche Gleichgewichte und Entwicklungspfade haben kann. Ein konjunkturunabhängiges Produktionspotenzial lasse sich nicht bestimmen (S.20). Die Entwicklung der US-amerikanischen Wirtschaft in den vergangen Jahren zeigt, dass die Konjunktur mit wirtschaftspolitischer Unterstützung (expansive Fiskal- und Geldpolitik) auf einen ‚höheren‘ Entwicklungspfad angehoben werden kann (S.21), wohingegen die ‚stabilisierende‘, prozyklische Politik der Eurozone diese auf einem suboptimalen Entwicklungspfad verharren lässt [hier schließt das Papier auch an die Diskussion um ‚Secular stagnation‘ von Larry Summers oder die Bilanzrezession von Richard Koo an (vgl. S.23)].
Schlussfolgerung der Autoren:
„Daher schlagen wir vor, den finanzpolitischen Rahmen von einem konjunkturstabilisierenden auf einem auf Vollauslastung zielenden Ansatz umzustellen. (…) der Staat soll so lange mehr Geld ausgeben als er einnimmt, bis Vollauslastung erreicht ist“. (S.26). [ein keynesiansicher New Deal so zu sagen].
Die Geldpolitik kann bei der Verfolgung dieser Ziele eine unterstützende Rolle spielen, soll aber (nicht länger) im Mittelpunkt stehen. Sie sei teilweise ungeeignet und insbesondere weniger demokratisch legitimiert (S.29f). Im Übrigen soll die staatliche Kreditaufnahme künftig nicht völlig unreglementiert sein, allerdings ist die irreführende Schuldenquote durch eine Zinsquote (reale Zinskosten bei 2 Prozent des BIP; S.37, S.47f) zu ersetzen.
Vorschläge für eine kurzfristige Umsetzung der „neuen Finanzpolitik“, die keine größeren EU- oder verfassungsrechtlichen Änderungen erfordern würden:
- Definition eines neuen Investitionsbegriffs, der etwa Ausgaben für Forschung und Entwicklung einschließt (S.57), da die Haushaltsordnung grundsätzlich ‚Investitionen‘ zulässt, diese bisher aber auf Anlagegüter und Finanzvermögen beschränkt.
- Einrichtung von Investitionsgesellschaften, die – unter Umgehung der Schuldenbremse – Fremdkapital aufnehmen könnten (S.58); dies insbesondere zum Ausgleich der Investitionsdefizite in den Kommunen.
Für mich war insbesondere die Gegenüberstellung konjunkturstabilisierender Regeln und dem Ziel der Vollauslastung/Maximierung des Produktionspotenzials aufschlussreich. Der Aufsatz ist in jedem Fall lesenswert. Hier das Original: https://newforum.org/new-paradigm/eine-neue-deutsche-finanzpolitik/