Europäische Integration: Überstaatlich, zwischenstaatlich oder einfach nur undemokratisch?

Beitrag für ADLAS – Magazin für Außen- und Sicherheitspolitik
Reihe: Die Welt und Deutschland

 

Der europäische Integrationsprozess steht immer wieder in der Kritik. Dabei zielt die Kritik zumeist auf supranationale Organe der EU, wie die Kommission und die Europäische Zentralbank (EZB), die im Laufe der Krise neue Kompetenzen erlangt haben. Allerdings sind auch inter-gouvernementale Verfahren nach wie vor von Bedeutung für die EU. Der Nationalstaat hat also immer noch eine starke Stimme. Das Problem ist, dass demokratische Legitimation in beiden Fällen bedroht ist.

Der europäische Integrationsprozess steht nicht erst seit Ausbruch der jüngsten Finanzkrise in der Kritik. Das wurde bereits bei den Referenden über den europäischen Verfassungsvertrag deutlich. In der Wirtschafts- und Finanzkrise seit 2007 hat die Skepsis aber noch einmal erheblich zugenommen. Dabei zielt die Kritik zumeist auf die supranationalen Organe der EU. Gemeint sind Institutionen wie die Europäische Kommission, an die die Nationalstaaten Kompetenzen abgetreten haben. Die EU-Kommissare vertreten im Idealfall deshalb nicht die Interessen ihres Heimatlandes, sondern die grenzüberschreitenden Anforderungen an ihr Ressort. Wenn sie dann aber aus mitgliedstaatlicher Sicht unpopuläre Entscheidungen treffen, müssen sie sich von der nationalen Öffentlichkeit und ihren Politikern schon mal vorhalten lassen, eine »Flaschenmannschaft« (Peter Gauweiler) zu sein. Das Gegenstück zur Supranationalität ist der Intergouvernementalismus. Er kennzeichnet sich durch das Fortbestehen nationaler Entscheidungskompetenzen und wird besonders durch den Rat der Europäischen Union verwirklicht, in den jeder Mitgliedstaat einen Vertreter nationaler Interessen entsendet. Dass intergouvernementale Institutionen kritisiert werden, erlebt man in den Mitgliedstaaten weitaus seltener, schließlich geht es hier um die eigenen nationalen Interessenvertreter.

Erste Prognosen über das Abstimmungsverhalten der Bürger zu den Europawahlen im Mai dieses Jahres zeigen einen deutlichen Zuwachs für euroskeptische Parteien. Einige dieser Parteien sehen sich als Verteidiger des Nationalstaates. Nichts anderes hat etwa der französische rechtspopulistische »Front National« im Sinn, wenn er davon spricht, Frankreichs nationale Souveränität wiederherzustellen. Die Verknüpfung von EU-Skepsis und dem Ruf nach einer Rückkehr zum Nationalstaat ist allerdings nicht in allen Fällen auf nationalistische Begeisterung zurückzuführen. Sie ist oft schlicht der Erkenntnis geschuldet, dass die europäische Demokratie, allen Integrationsschritten zum Trotz, auf der Ebene der EU-Institutionen noch nicht hinreichend etabliert ist und im Wesentlichen auf das Regieren innerhalb ihrer Mitgliedstaaten beschränkt bleibt. Demokratie und nationalstaatliche Souveränität gelten vielen deshalb als untrennbar. Die Kritik an der EU und ihren supranationalen Institutionen, ebenso wie der Ruf nach einer Stärkung intergouvernementaler Verfahren spiegeln demnach häufig einen Wunsch nach mehr demokratischer Legitimität. Ob die EU durch die Stärkung der Staats- und Regierungschefs aber demokratischer wird, ist fragwürdig.

Tatsächlich hat die Krisenpolitik der letzten Jahre ihre Spuren im Gefüge der europäischen Institutionen hinterlassen. Erstaunlich sind jedoch die völlig gegensätzlichen Meinungen, die es zu diesen Veränderungen gibt. Jeder, der sich schon einmal mit der EU befasst hat, wird mit dem Vorwurf vertraut sein, in den letzten Jahren sei zu viel Macht nach Brüssel transferiert worden. Der Nationalstaat werde durch die fortschreitende europäische Integration zugunsten eines supranationalen Konstruktes geschwächt. Maßnahmen gegen die „ausufernden Bestrebungen zu [EU-]Zentralismus“ fordert deshalb etwa die AfD; und ein CDU-Kandidat für die Europawahl tritt mit dem Slogan an „Deutschland stärken – Kommission bändigen“.Wer sich noch intensiver mit diesem Thema beschäftigt, wird aber auch schon die Klage gehört haben, dass die Krise und die Maßnahmen zu ihrer Bewältigung den gemeinschaftlichen und supranationalen Rahmen eher geschwächt hätten. Beide Seiten können mit guten Argumenten aufwarten.

Wer beweisen will, dass die Supranationalität in der EU überhand nimmt, verweist auf das jüngste Handeln der Europäischen Zentralbank (EZB), mit Sitz in Frankfurt am Main. Als hochgradig unabhängige Institution bestimmt sie allein die Geldpolitik der Europäischen Währungsunion. Zwar sind im obersten Beschlussorgan der EZB, dem EZB-Rat, die nationalen Notenbanken vertreten. Jedoch genießen auch diese einen hohen Grad politischer Unabhängigkeit von ihren Regierungen und Parlamenten. Zu den neuesten Einflussmöglichkeiten der EZB zählt an erster Stelle ihre Mitgliedschaft in der »Troika«, einem Gremium, das die Anpassungsprogramme für überschuldete Eurostaaten entwirft und deren Umsetzung überwacht. Es besteht aus der Europäischen Kommission, dem Internationalen Währungsfonds und der EZB. Mittels der Troika kann sich die Zentralbank direkt in jedes Politikfeld der Programmstaaten einmischen. Außerdem kommt ihr als neuem Aufsichtsorgan innerhalb der Bankenunion eine wichtige Rolle bei der Rekapitalisierung oder Abwicklung insolventer Banken zu. Das sind wichtige und kostspielige Entscheidungen, die in die Hände der Frankfurter Geldexperten gelegt und damit der Kontrolle und Einflussnahme nationalstaatlicher Regierungen entzogen wurden. Kritiker sehen darin einen allgemeinen Trend der Verdrängung von Staatsaufgaben aus dem Bereich der unmittelbar demokratisch kontrollierten Politik, insbesondere der (nationalen) Parlamente und gewählten Regierungen, zugunsten unabhängiger Experten. Es sind eben solche Entwicklungen, die zum »wachsenden demokratischen Defizit« in der EU beitragen, so der Ökonom Dominique Plihon. Der Politologe Henrik Scheller spricht etwas allgemeiner von »Depolitisierung«, meint damit aber ebenfalls eine Schwächung demokratischer Mehrheitsverfahren.

Ein weiteres Beispiel für den Machtzuwachs supranationaler Institutionen liefert die Europäische Kommission. Wie die EZB ist sie Mitglied der Troika. Daneben ist die Kommission Teil aller Maßnahmen der sogenannten »Economic Governance« in der EU. Dieser komplizierte Begriff bezeichnet eine Reihe von Abkommen und Mechanismen, die im Zuge der Krise geschaffen wurden, um die Wirtschafts- und Haushaltspolitik in allen Mitgliedsländern einheitlichen Regeln zu unterwerfen. So gilt beim reformierten Defizitverfahren, einem Teil des EU-Stabilitätspakts: Wenn die Kommission Sanktionen beschließt, muss sie diese nicht länger von einer Mehrheit der Mitgliedstaaten absegnen lassen. Im Gegenteil, es wäre ein Mehrheitsbeschluss nötig, um diese Sanktion zu verhindern. Zum Stabilitätspakt gesellt sich seit 2011 das Europäische Semester, ein Verfahren, das es der Kommission erlaubt, in den nationalstaatlichen Parlamenten erarbeitete Haushaltsgesetze schon vor ihrer Verabschiedung zu blockieren, wenn diese gegen die Defizitregeln verstoßen. Das Verfahren ermöglicht zudem Einfluss auf die Lohnpolitik und die Sozialsysteme der Mitgliedstaaten zu nehmen – etwa indem die Kommission Empfehlungen zur Deregulierung des Arbeitsmarktes oder zur Privatisierung von Renten- und Gesundheitssystemen ausspricht. Beides betrifft politische Kernkompetenzen, deren Ausübung für die Bürger der betreffenden Staaten unmittelbare Folgen besitzt und die deshalb bisher weitestgehend im Verantwortungsbereich der Mitgliedstaaten lagen.

Die Beispiele verdeutlichen die gewachsene supranationale Macht der EU. Doch auch für die Gegenseite, die Stärkung intergouvernementaler EU-Institutionen, gibt es klare Indikatoren. Die Mehrzahl der großen Entscheidungen in der Krise, insbesondere bei der Bankenrettung und der Vergabe von Krediten an zahlungsunfähige Mitgliedstaaten, haben die Gipfel des Europäischen Rates, also die Staats- und Regierungschefs, gefällt. Wenn Italien oder Spanien Probleme in ihrem Bankensektor anmeldeten, richtete sich der Blick auf diese Gipfeltreffen und die Stellungnahmen ihrer Teilnehmer. Was supranationale Organe wie die Kommission dazu sagten, interessierte wenige.

Es scheint demnach, dass die EU in Krisenzeiten in erster Linie eine intergouvernementale Angelegenheit ist. Wer kann sich vorstellen, dass die Bundeskanzlerin einmal sagen sollte: »Über die Vergabe des nächsten Rettungspaketes für Griechenland lassen wir die Kommission entscheiden. Die nationalen Regierungen sollen sich da nicht einmischen.«? Tatsächlich haben die Staats- und Regierungschefs solche Entscheidungen bisher bewusst nicht der Kommission überlassen, was ein Grund dafür sein mag, dass die ersten europäischen Krisenmaßnahmen nur lose in das europäische Regelwerk eingebunden waren oder – je nach Meinung – gar im Widerspruch dazu standen. Deshalb ärgerten sich jüngst die Abgeordneten des Europäischen Parlaments über das Vorhaben der Mitgliedstaaten, Teile der Bankenunion in einer zwischenstaatlichen Vereinbarung, also außerhalb des europäischen Rechts zu verankern. Diese Vorgehensweise bedeutet nichts anderes als eine Schwächung des Gemeinschaftsrahmens zugunsten eines intergouvernementalen Verfahrens, das außerhalb des EU-Vertragswerks steht und in dem die supranationalen EU-Institutionen darum bestenfalls eine beratende Rolle spielen können. Auch der Fiskalpakt, der jeden Unterzeichner verpflichtet, die Haushaltsregeln des Stabilitätspaktes in nationales Recht zu übertragen, steht eher »am Rande« der EU. Er ist zwar inhaltlich eng mit dem Stabilitätspakt verknüpft, der Sanktionsmechanismus für überschuldete Mitgliedstaaten muss aber durch einen Mitgliedstaat ausgelöst werden. Die Kommission kann lediglich Sanktionierungs-Empfehlungen aussprechen. Genauso ist es mit den Krediten für den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), über deren Vergabe die Mitgliedstaaten entscheiden.

Wer die Rückgewinnung nationalstaatlicher Souveränität als Heilmittel gegen das europäische Demokratiedefizit betrachtet, den könnte der Machtgewinn des Europäischen Rates also aufatmen lassen. Schließlich steht dieses Gremium für ein intergouvernementales Modell mit klarem Kompetenzvorrang der Staats- und Regierungschefs. So einfach ist es dann aber doch nicht. Der Rat der Staats- und Regierungschefs war in den Europäischen Verträgen zunächst lediglich als Impulsgeber vorgesehen und muss deshalb nicht öffentlich tagen. Die Transparenz des Entscheidungsverfahrens und die Kontrollfunktion der Parlamente werden damit aber erheblich eingeschränkt. Zudem kann sich die Öffentlichkeit ohne ausreichende Informationen keine fundierte Meinung bilden. Solch intergouvernementales Regieren mag zwar ein Gefühl gestärkter Souveränität vermitteln, größere demokratische Legitimität geht damit aber noch lange nicht einher.

Institutionelle Veränderungen in der EU in Reaktion auf die Krise führten also nicht per se zu mehr Supranationalität, auch wenn die starke Tendenz dorthin unverkennbar ist. In vielen Bereichen fährt die EU mehrgleisig. Das Europäische Semester bedient den Wunsch nach einer supranationalen Aufsicht über die Haushaltspolitik, gleichzeitig unterliegt dieselbe Politik der intergouvernementalen Kontrolle im Rahmen des Fiskalpaktes. Dazwischen steht der Stabilitätspakt, der sowohl der Kommission als auch den Mitgliedstaaten eine Stimme gibt, aber der Kommission die Initiative überlässt. In jedem Fall hat der Nationalstaat auch in der Krise seine starke Stimme nicht verloren. Gerade das Beispiel des Europäischen Rates zeigt uns aber noch etwas anderes. Obgleich seine Aufwertung dem heute viel gehörten Wunsch entspricht, man möge doch den Nationalstaat gegenüber der EU wieder stärken, so erfüllt sie doch nicht das, was diesem Wunsch meist eigentlich zu Grunde liegt: nämlich die Annahme, dass damit ein »mehr« an Demokratie einherginge. So wichtig die Unterscheidung zwischen supranationalen und intergouvernementalen Verfahren auch ist, muss man sich doch immer wieder klar machen, dass demokratische Legitimität nicht allein von der Entscheidungsebene abhängt.

 

Matthieu Choblet
Köln, Februar 2014.

 

Der Aufsatz erschien in leicht veränderter Fassung in: ADLAS – Magazin für Außen- und Sicherheitspolitik, Ausgabe 01/2014, S.81-84.

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